Digitaler Diözesanempfang mit Professor Dr. Hartmut Rosa als Festredner

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In der alleinigen Ausrichtung auf Wachstum sieht der Soziologe und Philosoph Professor Dr. Hartmut Rosa eines der großen Probleme der heutigen Gesellschaft.

„Das gesamte System lebt davon, dass wir jedes Jahr wachsen. Doch die Gesellschaft sollte nicht wachsen müssen, nur um das Bestehende zu erhalten“, sagte er beim digitalen Diözesanempfang am Montagabend, 17. Januar. Der permanente Zwang zur Steigerung erzeuge ein Klima der Aggression. Doch um gelingendes Leben und ein gelingendes Zusammenleben zu verwirklichen, brauche es ein „hörendes Herz“, erklärte Rosa in Anlehnung an das Jahresmotto des Bistums Würzburg. Gerade die Religion verfüge über Elemente, um die Menschen wieder „anrufbar“ zu machen, war er überzeugt. Bischof Dr. Franz Jung verwies auf den Gedanken der Gemeinschaft: „Kirche ist eine Gemeinschaft, und wir erfahren in der Gemeinschaft Resonanz.“ Der Diözesanempfang fand aufgrund der Coronalage digital statt und wurde live auf TV Mainfranken übertragen. Rund 250 Menschen verfolgten den Empfang live auf der Homepage des Bistums, im YouTube-Kanal wurde die Aufzeichnung bis Dienstagmittag fast 1800 Mal abgerufen.

Das Thema von Rosas Vortrag lautete „Rasender Stillstand? Individuum, Kirche und Gesellschaft im Angesicht der Krisen – ein soziologischer Bestimmungsversuch“. Das moderne Wirtschaftssystem lebe vom Wachstum. Man müsse noch schneller, noch innovativer werden. Das habe auf der einen Seite einen unglaublichen wirtschaftlichen Wohlstand und wissenschaftliche Entdeckungen hervorgebracht. Doch die damit verbundenen Versprechungen – eine gesicherte Existenz, mehr Wissen, Zeit im Überfluss – seien nicht annähernd eingelöst worden. Nun müsse man wachsen, um die Arbeitsplätze zu erhalten. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass der globale Konkurrenzkampf noch viel härter wird, dass alles noch viel härter wird. Die Mehrheit der Erwachsenen denkt, wir müssen alles tun, damit es nicht schlechter geht. Wir haben nicht mehr das Gefühl, wir laufen auf eine verheißungsvolle Zukunft zu, sondern wir laufen vor einem Abgrund weg, um nicht abzustürzen.“

Zudem schafft das Wachstum an sich Probleme, wie Rosa anhand von Beispielen erläuterte. Wenn man mehr baue, versiegele man mehr Flächen. Der Druck, ständig das neueste Handy anzuschaffen, führe zum Raubbau an Seltenen Erden. Kleidung werde weggeworfen, sobald sie nicht mehr modisch ist. Die Nahrungsmittelindustrie greife zu Enzymen, um das Sättigungsgefühl zu manipulieren. Der ständige Druck auf den Einzelnen erzeuge ein „Aggressionsverhältnis zur Welt“: „Jedes Jahr müssen wir ein bisschen mehr schaffen. Unser Verhältnis zur Welt ist aggressiv, weil die To-do-Liste explodiert.“ Doch im Aggressionsmodus funktioniere die Demokratie nicht mehr. „Das hörende Herz hat auch eine politische Dimension. Es reicht nicht, dass ich eine Stimme habe, es gehören auch Ohren dazu, die die anderen Stimmen hören.“ Sonst werde jemand, der eine andere Meinung vertrete, einfach nur zum Hindernis und als Idiot abgestempelt. „Intellektuelle Redlichkeit heißt zu hören, dass es auf der anderen Seite vielleicht auch Argumente gibt, die mir etwas zu sagen haben.“

„Diese Gesellschaft braucht die Rückbesinnung auf die Fähigkeit der Anrufbarkeit“, sagte Rosa. Darunter versteht er die Fähigkeit, aus dem Moment herauszutreten, sich berührbar zu machen, „aufzuhören“ in dem Sinn, dass man sich von etwas anrufen und erreichen lasse. Er verwendete dafür den Begriff der Resonanz. Ein Resonanzmoment beginne dann, wenn der Mensch durch etwas erreicht werde: „Etwas ruft mich an und bringt mich zum Aufhören.“ Wenn Resonanz entstehe, ändere sich die Körperhaltung, man fühle sich lebendig, komme in eine andere Stimmung. „Man kann diesen Moment nicht erzwingen“, sagte Rosa. So wie man sich an Weihnachten im „Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus“ befinde und dann nicht einfach um 17 Uhr auf einen Knopf drücken könne.

Ein „hörendes Herz“ falle nicht vom Himmel. Doch die Kirche sei ein „Ideenreservoir“, sie verfüge über Lieder, Traditionen und Räume, in denen ein „hörendes Herz“ eingeübt und – vielleicht – erfahren werden könne, war Rosa überzeugt. „Religion hat die große Kraft, ein vertikales Resonanzversprechen zu geben: Am Grunde meiner Existenz liegt nicht das schweigende Universum, sondern eine Antwortbeziehung. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen – da ist einer, der hat dich gemeint, und der hört dich auch.“ Religion könne einen Sinn dafür vermitteln, was es heiße, sich anrufen, sich transformieren zu lassen, in Resonanz zu stehen. „Wenn die Gesellschaft das verliert, dann ist sie endgültig im Eimer.“

„Ich bin dankbar, dass Religion in ihrem Potenzial von Ihnen so gesehen wird“, sagte Bischof Jung in der anschließenden Diskussion. „Kirche ist ein Raum, in dem etwas passieren kann. Es kann aber nicht erzwungen werden, es ist ein Geschehen von Gnade“, erläuterte er. Die Gesellschaft brauche die Form des Aufhörens, der Unterbrechung, wie sie beispielsweise in einem geweihten Raum entstehen könne, sagte Rosa: „Aber wir sind als Gesellschaft dabei, all das aufzugeben.“ Bischof Jung vertrat die These, dass Religion einen Rhythmus in das Leben der Menschen bringe, der das Aufhören und Aufatmen erst ermögliche. Für ihn selbst sei ein zentraler Punkt die kontemplative Dimension, wenn in der Stille das hörende Herz eingeübt werde. Doch gehören seiner Ansicht nach zu einem gelingenden Leben auch „Durststrecken“, in denen Ausdauer gefragt ist. Auch der Mönchsvater Antonius habe in der Wüste gemerkt, was es für ein Kampf sei, offen zu werden für das Wort Gottes.

Zu Beginn des Abends wandte sich Bischof Jung an alle Haupt- und Ehrenamtlichen, die sich in Kirche und Caritas engagieren. „Ich möchte Ihnen allen für Ihr hohes Engagement, für die Flexibilität und die Höchstleistungen danken, die Sie im vergangenen Jahr eingebracht haben, um mit und für die Menschen durch die Herausforderungen der Pandemie zu gehen.“

Das Ensemble Tiepolo Consort begleitete den Abend mit Werken von Jean-Baptiste de Lully und Jean-Michel Muller.


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